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Mythos und Wahrheit: Der «friedliche Alptraum» von Woodstock
Das Festival von Woodstock hatte alle Zutaten für eine Katastrophe und wurde zur Legende, die auch nach 40 Jahren nicht totzukriegen ist. Was aber geschah wirklich im August 1969? Ein Blick auf Mythos und Wahrheit.
- von
- Peter Blunschi
Woodstock war das erste grosse Openair-Festival.
Falsch, es gab schon früher grosser Konzertevents unter freiem Himmel. Bereits zehn Jahre zuvor hatte erstmals das Newport Folk Festival stattgefunden. 1965 verschreckte Bob Dylan dort das Publikum, als er mit einer elektrischen Gitarre auftrat. Und im «Summer of Love» 1967 fand das Monterey Pop Festival statt, ein erster Höhepunkt der Hippie-Bewegung. Trotzdem wurde Woodstock zum Vorbild für alle folgenden Festivals, und sei es nur, weil ein Openair ohne Schlamm seither kaum als vollwertig gilt.
Woodstock war antikapitalistisch und kommerzfrei.
Völlig falsch, es ging den vier Veranstaltern Mike Lang, John Roberts, Joel Rosenman und Artie Kornfeld von Anfang an ums Geld. Mit dem Erlös aus dem Festival wollten sie ein Tonstudio in der Künstlerkolonie Woodstock im Staat New York bauen, wo damals unter anderem Bob Dylan lebte. Dort war das Festival jedoch nicht willkommen. Schliesslich landete man 70 Kilometer entfernt im Weiler Bethel, auf einer Weide des Milchbauern Max Yasgur. Die Veranstalter behaupteten, sie rechneten mit 50 000 Besuchern, doch schon im Vorfeld hatten sie 186 000 Tickets verkauft. Schliesslich überrannten mehr als doppelt so viele Menschen das Gelände. Die Organisatoren kapitulierten und erklärten Woodstock zum «Free Concert». Am Ende resultierte ein Defizit von 1,3 Millionen Dollar.
Es ist ein Wunder, dass Woodstock nicht zur Katastrophe wurde.
Der enorme Ansturm – mehr als eine Millionen Menschen machte sich auf den Weg, nur knapp die Hälfte kam durch – überforderte Veranstalter und Infrastruktur. Es herrschte ein gravierender Mangel an Nahrung, sanitarischen Einrichtungen und Unterkünften, und als am Freitagabend ein heftiges Gewitter das Gelände in einen Morast verwandelte, war das Chaos perfekt. Für viele Besucher wurde Woodstock zum Alptraum – «zum friedlichen Alptraum», so der Autor Mike Evans, der eines von vielen Woodstock-Büchern verfasst hat. Dafür sorgten zahlreiche Helfer, die Essen organisierten, vor allem aber der exzessive Konsum von Marihuana, LSD und anderen Drogen.
In Woodstock gab es keine Toten.
Falsch, je nach Quellen gab es zwei oder drei Todesopfer – ein Besucher starb demnach an einer Überdosis, ein anderer an einem Blinddarmdurchbruch, und ein 17-Jähriger wurde während den Aufräumarbeiten in seinem Schlafsack von einem Traktor überrollt. Das Festival aber verlief absolut gewaltfrei.
In Woodstock kamen mehrere Babys zur Welt.
Ein gern kolportierter Mythos, für den es aber keine Beweise gibt. Bis heute hat sich niemand geoutet, der angeblich auf dem Festivalgelände geboren wurde. Eine werdende Mutter soll jedoch noch rechtzeitig mit einem Helikopter ins Spital gebracht worden sein und ein weiteres Baby im Verkehrsstau zur Welt gekommen sein.
Woodstock ist ein Synonym für freie Liebe.
«Es war einfacher zu vögeln, als sich ein Frühstück zu organisieren», schrieb das Magazin «Rolling Stone» und lag wohl nicht weit von der Wahrheit entfernt. Wo es Drugs und Rock'n'Roll im Überfluss gab, herrschte kein Mangel an Sex. Die Menschenmassen und der Schlamm sorgten für ein hohes Mass an Körperlichkeit.
Woodstock war ein Manifest gegen den Vietnamkrieg.
Der ungeliebte Krieg befand sich 1969 auf dem Höhepunkt, und in den USA herrschte Wehrpflicht. Nicht jeder junge Mann wurde eingezogen, aber jeder musste damit rechnen. Für viele war Woodstock deshalb die Verwirklichung einer utopischen Gegenwelt. Allerdings: Ohne die Hilfe des US-Militärs, das Helikopter und Ärzte zur Verfügung stellte, hätte das Festival möglicherweise doch katastrophal geendet.
Woodstock war eine musikalische Sternstunde.
Nur bedingt. Viele Bands lieferten Mittelmass ab, etwa die Vorzeige-Hippies von Grateful Dead, die total zugedröhnt waren. Andere wollten erst Geld sehen, bevor sie auftraten, etwa The Who, worauf die Veranstalter drohten, die britische Band öffentlich blosszustellen. Es gab aber auch grossartige Auftritte, etwa von Crosby, Stills, Nash & Young. Der schwarze Folksänger Richie Havens musste unerwartet als erster auftreten, weil andere Acts im Stau steckten, und länger spielen als geplant, weshalb er zum Schluss nur noch improvisierte und so seinen legendären Hit «Freedom» kreierte.
$$VIDEO$$Den Abschluss des Festivals bildete Jimi Hendrix' Version der US-Nationalhymne.
Hendrix trat als letzter auf, bereits am Montagmorgen bei Tageslicht, doch zum Abschluss sang er seinen Hit «Hey Joe». In Erinnerung aber blieb, wie er die Nationalhymne auf seiner Gitarre in eine Kakophonie verwandelte, die an fallende Bomben oder angreifende Kampfjets erinnerte. Ob Hendrix damit wirklich den Vietnamkrieg hörbar machen wollte, ist umstritten. Die «New York Post» jedenfalls schwärmte: «Endlich hörte man, dass man sein Land lieben, aber seine Regierung hassen kann.» Mehr noch, sie schrieb vom «grossartigsten Augenblick der Sechziger», dem jedoch nur noch ein paar zehntausend Leute live beiwohnten – die meisten hatten vor den Verhältnissen kapituliert und waren nach Hause gegangen.
Woodstock war der Höhepunkt der Hippie-Bewegung.
Ja und nein. Tatsächlich interpretieren viele das Festival als Kulmination dessen, was die Sechziger ausmachte: Protest gegen den Krieg, kulturelle Revolution, gesellschaftliche Umwälzung. Gleichzeitig aber hatte die Flower-Power-Bewegung damit ihren Höhepunkt überschritten. Michael Wadleigh, Regisseur des legendären Dokumentarfilms, erinnerte sich gegenüber «Rolling Stone» daran, wie er nach dem Festival über Felder voller Schlamm und Müll lief: «Ich hatte das Gefühl, dass die Sixties zu Ende gingen, dass härtere Zeiten bevorstanden, und dass viele unserer Ideale nicht überleben würden.» Bereits eine Woche zuvor hatte in Hollywood das Massaker stattgefunden, das von Charles Mansons «Family» verübt wurde, die als Hippie-Kommune gegründet wurde. Und nur wenige Monate nach Woodstock ereignete sich im Dezember 1969 das Desaster von Altamont, als bei einem Konzert der Rolling Stones ein Schwarzer vor der Bühne erstochen worden. Es war das Ende des Traums von Love and Peace.
40 Jahre Woodstock
Das Woodstock-Festival fand vom 15. bis 18. August 1969 statt. Das 40-Jahr-Jubiläum wird so intensiv begangen wie keines zuvor. Davon zeugen diverse neue Bücher, darunter «Making Woodstock» von Mitveranstalter Joel Rosenman, und zahlreiche Sondersendungen im Fernsehen. Ausserdem ist Michael Wadleighs Woodstock-Film als «Ultimate Collectors Edition» auf DVD und Blu-Ray erschienen. Bild und Ton wurden digital aufgepeppt und der Directors Cut mit noch nie gezeigten Szenen auf vier Stunden erweitert.
Ebenfalls unveröffentlichtes Material enthält der bislang aufwändigste Konzertmitschnitt in Form einer 6-CD-Box von Warner Music. Sie folgt erstmals der Chronologie des Wochenendes. 38 der 77 Songs waren offiziell noch nie zu hören. Am 3. September läuft schliesslich die Komödie «Taking Woodstock» des Oscar-gekrönten Regisseurs Ang Lee («Brokeback Mountain») in den Kinos an. Sie erzählt die Geschichte des Festivals aus der Sicht des jungen Eliot Tiber, der für einen Dollar die Lizenz erwarb, dank der Woodstock überhaupt durchgeführt werden konnte.